top of page
Man meditating yoga at sunset mountains Travel Lifestyle relaxation emotional concept adve

Spirituelles Bypassing & "richtiges" Mindset 

Ich beobachte seit längerem, verstärkt durch die Coronazeit eine besondere Hinwendung zu verschiedenen spirituellen Konzepten und Veränderungs-/Mindset-Ideen. Oft versehen mit der Hoffnung nun endlich den richtigen (Heilungs-)Weg fürs jeweilige persönliche Anliegen gefunden zu haben. Viele unerfüllte Bedürfnisse werden "nach oben" abgegeben. Der Wunsch nach Heilung von Symptomen, körperlich wie auch psychisch, sowie der Wunsch nach echter Verbindung zu sich selbst und anderen, aber auch oft der unbewusste Wunsch nun "endlich richtig zu sein", nun endlich den richtigen Lebensweg gefunden zu haben. 

Für mich handelt es sich hierbei häufig (nicht immer) um das sogenannte spirituelle Bypassing. Spirituelles Bypassing ist ein Begriff, der verwendet wird, um eine bestimmte Art von Verhalten zu beschreiben, bei der jemand versucht, spirituelle Überzeugungen oder Praktiken wie etwa Meditationen oder strenges Verfolgen einer spirituellen Tradition oder ein spezielles "Mindset", aber auch das Aufsuchen verschiedener Heiler zu nutzen, um unangenehme Emotionen oder Probleme zu vermeiden oder zu unterdrücken, anstatt sich ihnen aktiv zu stellen und sie zu lösen. Es beinhaltet oft den Missbrauch von spirituellen Konzepten oder Ideen, um der Notwendigkeit einer tiefgreifenden - oft schmerzhaften- persönlichen Arbeit auszuweichen. Dies ist eine natürliche Bewegung des Menschen, weg vom Schmerz hin zu Entlastung, und somit nicht "falsch", denn es geht, wie so häufig, wenn wir es mit Strategien der Psyche zu tun haben, darum persönliches Leid und schwer aushaltbare Gefühle fernzuhalten.

Ein Beispiel dafür wäre jemand, der sich in einer schwierigen persönlichen Krise befindet, aber anstatt sich damit auseinanderzusetzen und durch sie hindurchzugehen, versucht, sie mit einfachen "positiven" Affirmationen, dem richtigen Mindset, spirituellen Mantras zu überdecken, ohne tatsächlich die zugrunde liegenden Ursachen oder Emotionen anzuerkennen und anzugehen. Es ist eine Form der Vermeidung oder Flucht vor echter innerer Arbeit und kann leider - dies beobachte ich häufig - langfristig zu einer Vertiefung von Problemen führen, anstatt sie zu lösen. Und noch einmal: dies ist nicht "falsch", sondern eine Möglichkeit schwierige Gefühle wie Orientierungslosigkeit, Angst, Hilflosigkeit & Verzweiflung, Einsamkeit, tiefste Trauer, Schamgefühle  etc. in Schach zu halten.

Nachdem ich nun zum wiederholten Male Klienten und Klientinnen begleitet habe, die sich selbst unter einen starken spirituellen Druck bzw. Mindset-Veränderungsdruck gesetzt haben, möchte ich an dieser Stelle genau auf diesen inneren Veränderungsdruck den Blick richten.

Natürlich wäre es wundervoll, wenn man sich nur ordentlich anstrengen muss, die Gedanken gut sortiert und natürlich positiv ausgerichtet im Zaum halten könnte, und so endlich glücklich und zufrieden würde oder zumindest gut funktionieren könnte im Alltag. So funktioniert das aber leider auf Dauer nicht.

Dies ist eine Härte, die ins eigene Innere gerichtet wird. Dort herrscht aus unterschiedlichen Gründen zu Recht Unruhe. Wenn wir nun dort auch noch die Daumenschrauben anziehen, und das, was sich zeigt, aburteilen und zur Ordnung rufen, findet keine Heilung statt, stattdessen steigt der innere Druck.

Verstehen Sie mich bitte richtig. Dies soll kein Beitrag über eine allgemeine Kritik an Spiritualität, spirituellen Praktiken bzw. der Mindset-Veränderungsszene sein. Diese können sehr wertvoll sein und geben den Menschen seit jeher wie sämtliche Religionen Halt und Richtung für das eigene Leben. Dies allerdings meines Erachtens nach nur, wenn es dem Einzelnen möglich ist und bleibt bei sich zu bleiben; und sich selbst mit allem was sich zeigt ernst zu nehmen und wohlwollend anzunehmen. Gerade bestimmte Achtsamkeitspraktiken können sehr hilfreich sein, zu lernen mit sich selbst achtsam in Kontakt zu kommen.

Ich sehe es kritisch, wenn spirituelle Mittel oder sonstige Techniken dazu genutzt werden, sich nicht mit persönlichen Themen auseinandersetzten zu müssen oder wenn in diesen Kreisen eine Art Selbsterhöhung praktiziert wird, die Gefühle der Unzulänglichkeit des Einzelnen leider nur weiter nähren.

In der Therapie geht es eher darum erwachsen zu werden, sich schwierigen Themen und Gefühlen zu stellen und Verantwortung für sich und das eigene Leben zu übernehmen. Es geht also darum zur eigenen (Handlungs-)Macht zurückzugelangen. Wenn aber der innere kindliche Wunsch nach Rettung im Erwachsenenalter an eine neue Autorität, nun dem spirituellen Konzept oder einem Veränderungsziel, dem richtigen Mindset, abgegeben wird, so haben wir es eben nicht mit erwachsenem Verhalten und Verantwortung zu tun.

Ich möchte die Leser, die sich durch diesen Beitrag angesprochen fühlen, ermutigen, innezuhalten und erst einmal mit sich in Kontakt zu gehen, bevor sie das was sich auf ungemütliche Weise zeigt mit positiven Affirmationen zum Schweigen bringen.

bottom of page